In den letzten Beiträgen haben wir ausführlich beschrieben, wie geschlechtsspezifische Stereotype aussehen und zustande kommen. Doch wie äußern sie sich im Bildungssystem?
Bildungserfolg von Jungen, Mädchen, Männern und Frauen
Noch bis vor etwa 120 Jahren war es Frauen verboten zu studieren. Auch die Schulbildung fiel für sie im Durchschnitt schlechter aus. Als in den 1950er und 1960er Jahren die sogenannte „Bildungsexpansion“ einsetzte, da das Bildungsbewusstsein in der Bevölkerung zunahm und sich ein höherer Bedarf qualifizierter Fachkräfte abzeichnete, stieg die Qualität der Schulbildung für Mädchen (Hannover/Ollrogge 2021). Mit den Emanzipationsbewegungen der 1970er Jahre vertieften sich diese Bemühungen. Im Ergebnis erzielten Mädchen häufiger das Abitur – heute sogar öfter als Jungen.
Bei der Aufnahme eines Hochschulstudiums sieht die Statistik ähnlich aus. Im Wintersemester 2021/2022 waren in Deutschland erstmalig mehr Frauen als Männer immatrikuliert (Hüsch 2022). Gleichzeitig sind Frauen vor allem in MINT-Fächern nach wie vor untervertreten.
Geschlechtsspezifische Erwartungen an Begabungen
Klassischerweise gibt es in der Schule „Jungenfächer“ und „Mädchenfächer“, bei denen davon ausgegangen wird, dass bereits Kinder entsprechend ihres Geschlechts bestimmte Talente und Fähigkeiten mitbringen. Zu den „Jungenfächern“ zählen Naturwissenschaften und Sport, Mädchen sollen dagegen begabt in Sprachen und musischen Fächern sein. Dies benachteiligt Kinder aller Geschlechter, die diesen Stereotypen nicht entsprechen und anders gelagerte Begabungen und Interessen haben. Leistungen, die sie in Fächern erbringen, in denen diese nicht von ihnen erwartet werden, werden teilweise als weniger wichtig heruntergespielt, was zu Gefühlen der Unzulänglichkeit führen kann. Darüber hinaus bringen die meisten Schüler:innen von Vornherein weniger Interesse für ein Fach auf, wenn sie dieses als Domäne des anderen Geschlechts begreifen (Kessels 2022).
Geschlechtsspezifische Erwartungen an Verhaltensweisen
Neben diesen Stereotypen über scheinbar naturgegebene Begabungen für bestimmte Themen und Fachbereiche bestehen geschlechtsspezifische Stereotype über das Lernverhalten. Nach diesen sind Mädchen im Vergleich zu Jungen ruhiger und fleißiger, engagieren sich stärker für die Schule und das Lernen. Zum „typischen“ Verhalten von Jungen gehört hingegen auch, einmal faul zu sein und im Unterricht gelegentlich zu stören. Schon Kinder haben diese Stereotype derart verinnerlicht, dass sie ihr Verhalten an diese anpassen.
„Mädchen geben im Vergleich zu Jungen an, mehr Zeit mit der Bearbeitung von Hausaufgaben zu verbringen und sich im Unterricht stärker zu beteiligen. Jungen dagegen behaupten von sich selbst, häufiger zu stören und zur Arbeitsvermeidung zu neigen. Diese Mittelwertsunterschiede in den Selbstbeschreibungen spiegeln sich auch in entsprechenden Stereotypen wider, also den verallgemeinernden Annahmen darüber, wie Mädchen und Jungen lernen.“ (Kessels 2022)
Von ihren Mitschüler:innen werden Jugendlichen, die den Unterricht stören, mehr männliche Eigenschaften zugeschrieben. Wer sich dagegen in der Schule anstrengt, wird mit weiblichen Eigenschaften assoziiert (Kessels 2022). Negative Konsequenzen hat dies vor allem für die Mädchen: Erzielen sie gute Noten, wird dies weniger auf ihre Intelligenz zurückgeführt als auf ihre hohe Anstrengung. Bei Jungen wird davon ausgegangen, dass sie mindestens genauso gute Noten erreichen könnten, wenn sie sich nur mehr anstrengen würden. Mädchen und Frauen werden folglich insgesamt für weniger intelligent gehalten. Dies beeinträchtigt deren Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl. Auch wenn sich die Daten bislang auf Kinder und Jugendliche in der Schule konzentrieren, ist davon auszugehen, dass sich ähnliche Effekte an der Hochschule und im Studium fortsetzen.
Quellen
Kessels, Ursula (2022, 2. November): Welche Rolle spielen Geschlechterstereotype in der Schule?